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Die chronischen Krankheiten. Die Miasmen.
Band 2
Vorrede von Dr. med. O. Eichelberger
J. H. Allen gehört in die Reihe der Patriarchen der Homöopathie.
In diesem 2. Band der deutschen Ausgabe seiner „Chronischen Krankheiten“ werden von ihm vor allem differentialtherapeutische Konsequenzen gezogen. Er befaßt sich mit den Arzneimitteln insbesondere für die miasmatischen Leiden.
Er zitiert Hahnemann, der seit den Jahren 1816/17, wie er selbst schreibt, „bei Tag und Nacht beschäftigt war, den Grund auszufinden, warum alle die von der Homöopathie gekannten Arzneien keine wahre Heilung in den chronischen Krankheiten bringen.“ Er beobachtete, „daß die auf die beste Weise mit den bis dahin ausgeprüften Arzneien homöopathisch behandelten unvenerischen chronischen Übel nach ihrer wiederholten Beseitigung dennoch, und zwar immer in einer mehr oder weniger abgeänderten Gestalt und mit neuen Symptomen ausgestattet, wiederkehrten, ja alle Jahre mit einem Zuwachse an Beschwerden wiederkehrten. Ich war nun überzeugt, daß die Auffindung eines oder mehrerer Heilmittel, welche alle Symptome einschließen, die das ganze und vollständige Bild der jeweiligen Erkrankung ausmachen, bedeuten würde, alle Beschwerden und Symptome des unbekannten Ur-Übels entdeckt zu haben.“
J. H. Allen nun spricht von solcher Entdeckung des Meisters als von „dieser kostbarsten Seite homöopathischer Literatur.“ Das muß man wörtlich nehmen. Hahnemann erlebte es, als er jene neuen Homöopathika gefunden hatte, welche sämtliche Phänomene deckten: die Krankheit kam nicht wieder, sondern der Patient blieb gesund. Später befand er, daß das gesuchte Ur-Übel miasmatisch-chronischer Natur sein müsse. J. H. Allen stimmte diesem Postulat bei: „Welch’ wunderbare Entdeckung!“ Lapidar heißt es bei ihm, diese Urexistenz eines chronischen Miasmas ist die einzig wahre Auffassung von Krankheit.
Bei alledem handelt es sich um Kernpunkte des Vollzugs der Reinen Lehre im praktischen Tun. Ihr Begründer setzte sich allerdings erst als 63jähriger mit dieser unverzichtbaren Vervollständigung seiner Heilkunst auseinander. Und bis zum heutigen Tag haben diese zentralen Gesetzmäßigkeiten ihre Gültigkeit. Keine Belehrung seiner Nachfolger liefert Besseres, als die hier zur Disposition stehende Literatur. Sie vermittelt die universelle Idee des Homoion.
Der miasmatischen Prädisposition und Erkrankung, ihrer Symptomatologie in toto, wird kongenial zugeordnet das Heilmittel, eines oder mehrere, welches sämtliche Symptomzeichen des Krankheitsbildes auf sich vereinigt. Implizit können das nur die antipsorischen, antisykotischen, antisyphilitischen Medizinen sein. Wird anders gewählt, wird die notwendige Systemimmanenz in Frage gestellt. Es ist zu bedenken, all dieses konnte der Meister erst im letzten Drittel seines Lebens ins reine bringen!
Mit den genannten Arzneien wird also jede Sorte von Beschwerden und Symptomen des Ur-Übels „abgedeckt“. Daraus resultiert die sehr wohl atemberaubende Logik der Kunst der Anamnese der Reinen Lehre: Es müssen alle möglichen Symptomzeichen, sämtliche Phänomene ausgekundschaftet werden – samt und sonders! Der Vergleich mit einem Kuchen ist angebracht. Zuvörderst muß der ganze Kuchen gebacken, die vollständige Krankenbiographie aufgenommen werden, ehe die Suche nach den Rosinen, den kleinen und den großen, nach den Leitsymptomen demnach, eingeleitet werden darf. Halber Kuchen besagt halbe Rosinenzahl. Diese Rosinen versinnbildlichen jene Symptomatologie, welche gemäß Paragraph 153 des Organen die mittelentscheidende Spitzenqualität auf sich vereinigt. Sie repräsentiert die sonderlichen, eigenheitlichen, die höchstpersönlichen Daten der kompletten Biographie des Leidenden. Die noch existierenden guten bis interessanten Symptome, Zeichen und Modalitäten folgen auf dem Fuße. Ihr Stellenwert ist jedoch geringer; das Bessere ist des Guten Feind.
Das tout ensemble der Anamnese schließt auch die Blutsverwandtschaft aller Grade mit ein, somit auch die bereits lebende Nachfolgegeneration. In summa: Auf keine andere Weise ist die Homöopathik (Hahnemanns Terminus) verifizierbar. Eigenbrötelei, Verballhornung ihrer Betriebsvorschriften verdrängen diese Medizindisziplin in die Gefilde der Provinzialität. Wer sollte sich um die schwierige Beherrschung dieser Heilkunst bemühen, wenn er nur solche Ergebnisse erreichte, die jedem ehrenwert allopathisch Behandelnden ebenso zugänglich sind? Wir wollen wesentlich effizienter kurieren. Es hat sich lange erwiesen, daß diese Homöopathie fabelhafte Erfolge zeitigt, wenn sie kunstgerecht praktiziert wird.
Dafür tritt mit das Werk J. H. Allens auf den Plan. Dieses ist im Grunde unverzichtbar, seine Lehrinhalte bewähren sich als beste homöopathische Tradition. Keine noch so umfangreiche, jahrelang autochthon deklarierte Homöotherapie wird dasjenige ersetzen können, was unsere Vorfahren an optimaler Simileheilkunsi überliefert haben. Ab ovo alles allein wissen zu wollen wäre Nonsens.
Heutzutage wird es unsere besondere Aufgabe sein – viele Erkrankungen breiten sich bereits seuchenartig aus –, gerade den klassischen Formen der Miasmen Herr zu werden, der Psora, der Sykosis, der Syphilis nach unserem Verständnis.
Jetzt allerdings müssen wir uns fragen: Ist es bisher gelungen, die von Hahnemann inaugurierten „Gegenmittel“ zu den obigen Übeln intensiv und sicher genug an den Mann zu bringen? Nein, das ist leider nicht der Fall. Schuld daran gewissermaßen ist die Genietat Hahnemanns selbst. Seine neu geschaffenen antimiasmatischen Medizinen führen ja ungezählte Symptome mit sich, eine Fülle von Phänomenen, die, wie er sagt, „das ganze und vollständige Bild der jeweiligen Erkrankung ausmachen“. Wir wissen im übrigen, dank der immer weiter und besser geprüften Heilmittel der neueren Zeit: letztlich sind unsere sämtlichen Arzneien an dieser „Schuld“ mitbeteiligt.
In der 200jährigen Geschichte der Homöopathik war es daher kaum möglich, ihr riesiges Mittelarsenal, über 1.000 Einzelarzneien, sinnvoll anzuwenden. Die Repertorien brachten zwar wertvolle Hilfe, trotzdem fühlte man sich bei der Auswahl des Simile, der Similia gerade für die chronischen Leiden wie ein Kork auf dem Ozean, der verloren im Wasser schwimmt, nirgendwo Land erreichen kann. Man war gezwungen, ständig Kompromisse zu schließen, auf der einen Seite bei der Fallaufnahme, auf der anderen Seite bei der Wahl der passenden Medizin. Das führte zu vielen Mißverständnissen. Es entstanden „Bastard-Homöopathien“ jeglicher Couleur. Das ist die Crux der Reinen Lehre bis vor wenigen Jahren gewesen, ihre Praktizierbarkeit war nicht ausreichend gewährleistet.
Diese Quadratur des Zirkels konnte (mit der nötigen verbleibenden Distanz) erst dann gelöst werden, als innerhalb der dritten industriellen Revolution die elektronische Datenverarbeitung (EDV) ihren Siegeszug begann. Durch die systematische Einführung des Rechners in die Homöopathik, beginnend vor etwa 10 Jahren, unter gleichzeitiger Anpassung der Fallaufnahme an die Computeranlage mittels weiträumig angelegter Anamnesebogenaktionen, deren Sinn es ist, an den Kranken einen erklecklichen Teil der Beantwortung der uns am Herzen liegenden vielfältigen Fragestellungen zu delegieren, hat eine neue Ära der Similemedizin begonnen.
Diese Werkzeuge erlauben es zum ersten Mal überhaupt, die Hahnemannischen, somit unsere differentialtherapeutischen Intentionen in einem Maße zu verwirklichen, in einer Intensität und Klarheit eine Similedefinition auch bei den kompliziertesten Fällen durchzusetzen, an die man früher nicht im Traume hatte denken können.
Folgen wir Hahnemann und dem Adepten, vom dem hier die Rede war, und den anderen Patriarchen, die uns seine Heilkunst gelehrt und überliefert haben. Die hochmodernen Entwicklungen der Technik haben der Reinen Lehre eine unerhörte Dignität und eine nicht mehr zu überbietende Sicherheit der Arzneimittelwahl beschert.
Dr. med. O. Eichelberger
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