Verlag Renée von Schlick

Constantine Hering

 

Leitsymptome unserer Materia Medica

Vorwort von Dr. med. O. Eichelberger
 

Über Constantine Hering zu schreiben, ist eine dankbare Aufgabe. Er steht am Anfang der Historie der Homöopathie und jeder, der sich ihr verschrieben hat, empfindet großen Respekt vor der wissenschaftlichen Leistung dieses getreuen Paladins Samuel Hahnemanns.

Hering sollte 1821 ein Buch über die „Irrlehre der Homöopathie“ veröffentlichen. Doch aus dem Saulus wurde ein Paulus und einer ihrer aktivsten und erfolgreichsten Therapeuten. Der Meister selbst schrieb damals an ihn: „Ich habe Vertrauen in Sie, weil Sie einer der wenigen sind, die die göttliche Kunst rein und mit Begeisterung auszuüben fähig sind.“

Hahnemann wünschte nachdrücklich und wiederholt, seine Lehre als eine göttliche Kunst zu begreifen. Wenn er C. Hering als einen der wenigen anführt, die seine Heilkunst „rein und mit Begeisterung auszuüben fähig sind“, setzt er voraus, dieser Adept habe erkannt, was auch die Homöopathik „im Innersten zusammenhält“. So zu recherchieren forderte die gelobte Denkweise seines Schülers heraus.

Weil die Reine Lehre über keine eigenheitliche Erkenntnistheorie verfügt, eine agnostische allerdings wäre eine contradictio in adiecto, sei es erlaubt, sich in der Medizin und Philosophie etwas umzusehen und in Kürze eine Milieutheorie zu formulieren:

Die Patriarchen der Homöopathie, zumeist Zeitgenossen Goethes, hatten eingesehen, daß nach dessen innersten Erlebnissen „wir zu unserer Not und Lust durch die hohle Gasse der Naturwissenschaften hindurch müssen, wenn wir zu jener uns im Herzen verheißenen Tagesansicht gelangen wollen.“ Die Deutsche-, die Weimarer Klassik Goethes und Schillers war eine Hochzeit des Abendlandes und die Klassische Homöopathie nahm damals mit Hahnemann ihren Anfang. Die Blume der Romantik des Novalis ist bekanntermaßen die Pulsatilla!

Nun, Goethe wandte sich in seinen späteren Jahren auch der Natur­wissenschaft zu, entdeckte 1784 den Zwischenkieferknochen und bildete seine Methode der morphologischen Betrachtung aus. Insbesondere diese Forschungen hatte er sich immer höher angerechnet als seine sämtlichen Dichtungen, den „Faust“ ausgenommen.

Das war und ist bis zum heutigen Tag für die Reine Lehre Hahnemanns von unerhörter Bedeutung. Denn die Prämisse Morphologie und all ihrer Modalitäten bildet das wissenschaftliche Fundament sämtlicher Grundgesetze der Homöopathie. In der zeitgenössischen Natur- und Geisteswissenschaft gilt der Begriff der Morphe weiterhin als ein Fabelwesen. Von einigen rudimentären Gedankengängen abgesehen ist er nicht zu fassen, von einem Umsetzen in die Realität kann nicht die Rede sein. Der Homöotherapeut wiederum lebt nolens volens tagaus tagein von der Morphogenese sozusagen, infolge ständigen Umgangs mit seinen Arzneimitteln, deren Kräftepotentiale, in ihren stofflichen Strukturen den gesunden Menschen krank machend, in der Verwendung als Similemedizin via Hochpotenz die Morphe, die Gestaltungskräfte des leidenden Organismus rehabilitieren.

Es handelt sich hier keineswegs um Phantasmagorien, sondern um Empirie, um Einsichten und Phänomene, die weit über die moderne Krankheitslehre der Pathologie der Zelle hinausführen. Ob Aristoteles von der Causa formalis, Thomas von Aquino von der Psyche treptica, Paracelsus vom Archäus, Hahnemann von der Lebenskraft spricht, gar Hippokrates vordergründig von der Pathologie der Säfte, Dyskrasis, oder höchst aktuell Rudolf Steiner von dem Bildekräfteleib, alle meinen sie das gleiche!

Allein die zeitgenössische Medizinwissenschaft hat sich namens ihrer Erkenntnistheorie, deren Abkömmling sie als Zellenstaatslehre präsentiert, mit solchen Gestaltungskräften noch nicht anfreunden können, schon deshalb nicht, weil sie sich den Weg dahin durch ihre materialistisch-agnostische Anschauung von der Welt und ihrer Naturreiche verbaut hat. Sie ist in die Gentechnik geflüchtet, hat dabei ihr Genre nicht verlassen, bleibt weiterhin den „Informationen“ verhaftet, hat keine Vorstellung vom Informanten, der doch, das fordert die schlichte Logik, existent sein muß, der allüberall dahintersteht und dirigiert.

Wer der Homöopathik logische und ins Reale umzusetzende Ideen zukommen lassen will, kann nicht umhin, derlei Gedanken zu hegen und zu pflegen auch im Rahmen dieser Vorrede für die Enzyklopädie des C. Hering, die von ihm über 10 voluminöse Bände hinweg geschaffen wurde. Enzyklopädie meint ja „die grundlegende Darstellung einer Wissenschaft“. Weil Hahnemann mit seiner Lehre die Arzneimittelprüfungen am gesunden Menschen und dergestalt die Differentialtherapie par excellence, die Similemedizin, inauguriert hat, beinhaltet systemimmanent jedwede ihrer verläßlichen Arzneimittellehren die allseitige Darstellung eben dieser Heilwissenschaft!

Es versteht sich von selbst, die notwendigen zusätzlichen Ideenketten und gedeihlichen Denkvorgänge zu entwickeln, fordert auch tiefergehende Betrachtungen. So ist es opportun, bei der Gelegenheit auf historische Beispiele zurückzugreifen. Ein spezieller Grund dafür ist der, daß in diesen Zeiten allein das Theistische und keinesfalls das Atheistische im Schwange war. Beschäftigen wir uns daher kurz mit einem geistreichen Vertreter aus der Zeit der Spätscholastik, einem Mann aus dem 15. Jahrhundert, Raimundus von Sabunda, einem Spanier, Lehrer für Theologie, Philosophie und Medizin an der Universität von Toulouse. Die Quintessenz seiner Lehre, die auch Nikolaus Cusanus und Amos Comenius anerkannt hatten, hört sich so an:

„Die Menschen sind von dem Standpunkte, der ihnen ursprünglich von den zu ihnen gehörigen Göttern verliehen war, heruntergefallen. Wären sie auf diesem Standpunkte geblieben, sie hätten alles das, was in den wunderbaren Kristallformen des Mineralreiches, was in dem ungeformten Mineralreiche lebt, was in den hundert- und tausendfältigen Formen des Pflanzlichen lebt, was in den Formen des Tierischen lebt, was sich regt und bewegt in Wasser, Luft, was sich regt und lebt im Warmen und Irdischen, sie hätten all das so gesehen wie es in seiner wahren Gestalt ist…“

Die Tragweite dieses Sündenfalls ist dramatisch: Die wahre Gestalt der Dinge in der Natur erleidet eine „Verdunklung“. Und der Ausgleich für diesen Fall konnte nur sein das Lesen in der Natur. Paracelsus nennt das „durch der Natur Examen gehen“. Was nun? Wie verhalten sich die Patriarchen der Homöopathie? Was auch unternehmen alle ernst zu nehmenden Homöotherapeuten der Moderne? Auch sie lesen im Buche der Natur, auch sie gehen durch der Natur Examen!

Sie folgen dem genialen Grundgedanken eines Arztes, einem Gedanken, der bis dahin in der Medizingeschichte niemals gedacht worden war, nämlich Medikamente am gesunden Menschenorganismus zu erforschen und nach dem Heilprinzip eben dieses Mannes, Hahnemanns, „Ähnliches kann nur durch Ähnliches geheilt werden, Similia similibus curentur“, zu verfahren. Nun, sie halten sich an die Vorschriften, die ihnen der Meister angegeben und hinterlassen hat. Sie finden dessen Erkenntnisse in der praktischen Anwendung nachvollziehbar, sie erleben die Reinheit der Lehre als eine phänomenologisch fundierte Jatrik und derart als ein in sich geschlossenes Lehrsystem. Sie verbleiben getreulich innerhalb dieser Phänomene. Sie bedienen sich einer Eselsbrücke, gar der goldenen Brücke, bei der Wahl ihres Homöopathikums, der am Gesunden abgelesenen subtoxischen Auswirkungen ihrer Versuchsstoffe nach dem Prinzip von Gift und Gabe: es kommt auf die Dosis an (Paracelsus).

In effectu werden sie ebenfalls an die kosmische Wahrheit des Sündenfalls her?angeführt. Sie spüren es zumindest, sie sind ad hoc außerstande, die Natur so zu sehen, „wie sie in ihrer wahren Gestalt ist“. Jeder therapeutische Akt andererseits erinnert sie an die einzig am gesunden Homo sapiens, dem „Prüfer“, sich offen?barenden Gestaltungskräfte der Naturreiche. Die Augen sind ihnen aufgetan, und wenn sie es wollen, können sie erfahren, wie die Natur ihrer wahren Gestalt nach konstituiert ist: Ihre vielfältig ausgelegten Arzneimittellehren, eine überwältigende Fülle von Symptomen, weihen sie im Verbund mit heilkünstlerischem Tun regelrecht ein. Es offenbart sich ihnen die Ars divinae, eine göttliche Heilkunst.

Je mehr an Angebot von Reinen Arzneimittellehren auf dem Tisch liegt, desto vorteilhafter für uns. Um bald den Gesamteindruck von einer einzelnen Arznei zu erhalten, ist es unumgänglich, eine Anzahl solcher Werke im Besitz und ihren essentiellen Inhalt im Kopf zu haben. Wie jeder Baum als Ganzes erkannt sein will, muß auch alle homöopathische Medizin von allen Seiten betrachtet, studiert, memoriert werden. Exakt aus diesen Gründen benötigt der Adept wenigstens ein Dutzend der genannten Arzneibücher, von denen doch jedwedes seinen diffizilen Inhalt, sein eigenes Gesicht besitzt.

Die moderne homöopathische Literatur allerdings wird nicht selten in ihrem Wert infrage gestellt deshalb, weil gerade ihre Pharmazeutik anhand kimischer Gesichtspunkte ausgemagert wurde. Dabei handelt es sich leider so und so oft um willkürliche Entscheidungen. Es werden angebliche Ungereimtheiten ins Feld geführt, obwohl viele Manipulationen einem mangelnden Sachverstand zuzuschreiben sind: Klinisches Denken – homöopathisches Handeln, ein gewaltiges Mißverstehen der Gesetzmäßigkeiten der Similemedizin.

Auch den alten Prüfern gegenüber ist man nicht ohne Mißtrauen geblieben. Zweifellos jedoch waren insbesondere die Homöopathen der Gründerzeit – Hahnemann selbst hat 30 Jahre lang mit ausgesuchten Prüfern zusammengearbeitet – sehr wohl potente Schüler ihres Meisters. Das zwingt zur Schlußfolgerung, ohne Pardon ist gerade an der alten erprobten Literatur festzuhalten! Im übrigen wurde die Qualität dieses Schrifttums über die ganze Historie der Homöopathie hinweg schon dadurch bestätigt, daß an unzähligen kranken Menschen dessen Lehrinhalte, seine Symptome, Zeichen und Modalitäten sich verifizieren ließen. Das heißt, einfach dadurch, daß diese Patienten ihre Gesundheit wiedererlangten, konnte die Wirksamkeit der verordneten Homöopathika im Verlaufe von beinahe zwei Jahrhunderten klar belegt werden. Zudem ist die exakte Registrierung solcher Erfolgserlebnisse über lange Zeiten hin vorgenommen und schriftlich niedergelegt worden. Sie finden sich wieder auch in den dafür geschaffenen Repertorien.

Flury, Bern erinnert an den kostbarsten Besitz der homöopathischen Medizin, an die Arzneimittelbilder aus der großen Zeit Hahnemanns und seiner unmittelbaren Nachfolger. Sie sind unwiederholbar und wir lernen heute noch am besten aus diesen Quellen. Er nennt die Patriarchen der Reinen Lehre und schließt Hering und Kent an Hahnemann an. Von diesem selbst spricht er als von dem größten medizinischen Erfinder, den es je gegeben hat, die größte Gestalt, die er in der gesamten Medizingeschichte kennt.

Neben dem Werk Constantine Herings existiert nur noch das Opus von Timothy F. Allen, eine Enzyklopädie von 12 umfangreichen Bänden. Man sagt, die „Guiding Symptoms“, die richtungweisenden Symptome Herings, stellen eine unerläßliche Ergänzung des Allenschen Werkes dar und umgekehrt.

Nun, der letztere experimentierte am gesunden Menschen nach Art des Hauses Homöopathik, demnach linientreu gemäß der Reinen Lehre, der puren sozusagen. Herings vorrangige Leistung bezieht sich darüber hinaus auch auf die klinische Symptomatologie. Es handelt sich um detaillierte Daten kranker Menschen, die durch klinische Heilungen bestätigt werden konnten.

E. A. Farrington, ein Zeitgenosse Hahnemanns wie Hering, hat gar eine „Klinische Arzneimittellehre“ erstellt. Das hat zur Folge, daß es im Gegensatz etwa zur Reinen Arzneimittellehre Hahnemanns um keine akribische Aufzählung von Prüfungszeichen und Phänomenen geht, sondern um eine eher kurze Darstellung einer homöopathischen Arznei hinsichtlich einer klinisch relevanten Symptomatologie. Wer sich auch diese klinisch eingefärbte Literatur zu Gemüte führt, sieht sogleich, daß solchermaßen ein ebenso unverzichtbares Bild einer Similemedizin erscheint: beides ergänzt sich fugenlos.

Gerade der Gebrauch eines Repertoriums legt dies völlig offen: So finden sich im Kent eine Vielzahl klinischer Termini technici, insbesondere klinische Diagnosen, angefangen vom Abszeß in dem oder jenem Organsystem bis hin zur Zuckerharnruhr. Eine verantwortliche Homöotherapie unter Ausschluß zusätzlicher klinischer Begriffe gibt es nicht! Die klinischen Diagnosen beinhalten nichts anderes als einen bestimmten Ausschnitt von Krankheitszeichen, wie ihn die Klinik sich eben zugelegt hat – völlig zurecht natürlich (kline: griechisch für Bett) – und die vor allem durch die moderne medizinische Technik vervollständigt werden konnten.

Den Homöotherapeuten interessieren diese Errungenschaften der Klinik in nicht geringerem Maße als seine eigene subtile, all das noch weit übertreffende, umfassende Kunst der Anamnese, die sich an der Humoralpathologie des Hippokrates, an der Miasmenlehre Hahnemanns ausrichtet und folgerichtig die Erkrankungen und Leiden der Blutsverwandtschaft miteinbezieht. Und erst beides gemeinsam, das klinische und nichtklinische Symptomenbild definiert nicht nur das wahrhaftige, komplette Krankheitsbild, sondern auch als sein Gegenüber das zuständige Arzneimittelbild der Homöopathie!

Die 10bändigen „Guiding Symptoms“ wurden nach dem Tode Herings von 1879 bis 1891 von seiner Tochter veröffentlicht. Die englische Ausgabe, ein quasi unermeßlicher Symptomenschatz, umfaßt 5.708 Buchseiten. Der Inhalt ist aufgeteilt in 5 verschiedene Bewertungen, über die der Autor in seinem Vorwort (Preface) entsprechend unterrichtet. Bisher konnte nur der der englischen Sprache mächtige Behandler mit Nutzen dieses formidable Werk meistern. Die sprachliche Barriere wurde jetzt überwunden. Frau Renée von Schlick, Aachen, leistet die Übersetzung ins Deutsche und bringt erstmals in ihrem Verlag die „Guiding Symptoms“ in Deutsch als „Leitsymptome unserer Materia Medica“ heraus. Dafür sprechen wir ihr unseren Dank aus.

Resümee: der Hering ist ein Standardwerk homöopathischer Literatur und sollte im Besitz jedes Adepten in der Nachfolge Hahnemanns sein.

Dr. med. O. Eichelberger, München

 

 

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